Edle Damen, Ritter und viel Raum für Spekulationen: Das mittelalterliche Leinentuch im Stadtmuseum

Das prächtige, mittelalterliche Leinentuch mit seinen eindrucksvollen Stickereien gehört neben der Replik des romanischen Kelches zu den Highlights in der Dauerausstellung des Stadtmuseums Bergen auf Rügen. Es zählt, wie auch der originale Abendmahlskelch, zu den einstigen Schätzen des alten 1193 von Jaromar I. gestifteten Klosters in Bergen. Heute befindet sich die wertvolle Bergener Decke im Besitz der evangelischen Kirchengemeinde Bergen auf Rügen. Der Reiz dieses Textils liegt nicht nur in seinem Alter und der Kunstfertigkeit seiner Stickereien, sondern ebenso in den vielen Rätseln und offenen Fragen, die es begleiten. Wer hat es angefertigt? Warum wurde es hergestellt? Welche Aussagen verbergen sich hinter den gestickten Darstellungen?

 

Das Tuch weist noch folgende Maße auf: Ungefähr 240 cm lang und ca. 82 cm hoch und besteht aus zwei gewebten Leinenbahnen. Den Stickereien ging das Vorzeichnen der einzelnen Szenen voraus. Mit Fäden aus Leinen und gefärbter Seide wurden zwei Bildzeilen gefertigt, die jeweils aus 6 Medaillons bestehen. Zwischen den einzelnen Bildfeldern sind stilisierte Lilienblüten und an den Rändern halbe Rosenblüten erkennbar. Eine weitere Bildzeile oberhalb des aktuellen Tuchrandes ging unbekannt verloren. Die Konturen der Vorzeichnung wurden im Kloster- und Stielstich umgesetzt, die Füllung der Flächen erfolgte unter Verwendung von Varianten des Flachstichs (schwedischer Gobelinstich). Der Erhaltungszustand der ungefärbten Leinenfäden lässt eine gute Erkennung der Gesichter und Hände, der Tierkörper, des Mobiliars, der Grassoden, Bildrahmungen und verschiedener Accessoires zu. Die stark verblassten Seidenfäden sind dagegen vielfach ausgefallen und beschädigt. Eine weitgehende Rekonstruktion der einzelnen Bildfelder ist durch die Vorzeichnung möglich. Ursprünglich war das Tuch sicherlich deutlich farbiger als jetzt, aber es lassen sich noch verschiedene Grün- und Blautöne, sowie ein Honiggelb erkennen.

 

In der ersten Szene tauchen ein Mann und eine Dame mit Krone auf. Die ineinandergreifenden Hände könnten auf ein Treuegelöbnis oder eine Verlobung zwischen beiden Personen hinweisen. Im nächsten Medaillon ist der gleiche Mann mit einer Frau mit Lilienkrone auf einer Bank sitzend abgebildet, sie scheint ihm etwas zu reichen. Es folgt eine Jagdszene, d.h. ein Mann mit Hut und einem Falken auf der Hand reitet in Begleitung seines Knappen. Ihm ist das Schildwappen der halben Lilie zugeordnet. In den folgenden zwei Bildfeldern tritt der Herr mit dem halben Lilienwappen gegen einen Ritter mit Sparrenwappen in einem Zweikampf zu Pferd an. Anschließend ist der Inhaber des halben Lilienwappens anscheinend siegreich aus dem Turnier hervorgegangen und sitzt mit der Dame aus der ersten Szene auf einer Bank. Sie reicht ihm als Belohnung eine Schale. Das siebte und achte Medaillon zeigt wieder ein Turnier, diesmal tritt der Ritter mit der halben Lilie gegen einen Kämpfer mit einem vollen Lilienwappen an. Links der beiden Reiter steht eine Person, die ihr Gewand und ihren Hut auffällig zur Schau stellt. Der bislang erfolgreiche Herr mit dem halben Lilienwappen scheint den Kampf verloren zu haben und liegt auf seinem Schild/ seiner Schlafstätte. Die Haltung des Kopfes kann als Geste des Schmerzes und Verlustes interpretiert werden. An die Gestalt treten die Dame mit der Lilienkrone und eine zweite Frau heran und verlassen in der neunten Szene den Ritter, wobei sie eine Schale mit sich nehmen. Diese Schale hält die Dame mit der Lilienkrone im letzten Bildfeld in ihren Händen, ein junger Mann und eine Frau flankieren sie.

 

Die Interpretation der Darstellungen wird erheblich durch das Fehlen von Beschriftungen erschwert. Die Wiederholung bestimmter Motive wie der Herr mit dem halben Lilienwappen, die Dame mit der Lilienkrone und die ausdrucksstarken Gesten der einzelnen Personen weisen auf eine Abhängigkeit der einzelnen Szenen untereinander hin. Erkennbar sind Motive aus einem ritterlichen und höfischen Umfeld. Die Handlung des ersten Bildstreifens, ein Ritter tritt in den Dienst einer vornehmen Frau und kämpft um ihretwillen, war als „hohe Minne“ im Mittelalter bekannt. Andere Interpretationen vermuten hier eine verkürzte Umsetzung des Epos von Tristan und Isolde oder betrachten das Leinentuch als textiles Rechtsdokument, das die pommerschen Herzöge bzw. den Landvogt an die Gerichtsimmunität des Bergener Klosters erinnern soll. Das Leinentuch wird auf die Zeit um 1330 datiert, also in die Jahre nach dem Tod des letzten einheimischen Rügenfürsten Wizlav III 1325, als das Fürstentum Rügen schlussendlich an das Herzogtum Pommern-Wolgast fiel.

 

Raum für Spekulationen bieten auch die Fragen nach dem Anlass für die Anfertigung der Decke. Ohne Zweifel handelt es sich um ein kostbares und wertvolles Textil, dafür sprechen die Materialien und die zeitaufwendigen und qualitätsvollen Stickereien. Die Interpretation als Rechtsdokument legt einen Auftrag im Namen des Klosters oder vielleicht sogar eine Fertigung durch die ansässigen Zisterzienserinnen selbst nahe. Dem Opus Textile kam eine hohe Bedeutung zu, da es die Disziplin der Nonnen und die Gemeinschaft des Konvents fördern sollte. Als Argumente gegen eine klösterliche Arbeit werden die weltlichen Themen und das Fehlen von christlichen Motiven angeführt. Die textile Ausstattung von Klöstern beruht auch auf Stiftungen und der Aussteuer von Konventualinnen. Vielleicht wurde das Tuch in einem weltlichen Kontext angefertigt und ging dann durch den Eintritt einer Frau in den Konvent in den Besitz des Bergener Zisterzienserinnenklosters über.

 

Eine Verwendung als Antependium in der St. Marienkirche soll überliefert sein. In der Literatur wurde auch über einen möglichen Gebrauch als Rücklaken einer Ehrenbank nachgedacht. Die bei der Restaurierung festgestellten Wachsflecken weisen auf eine Nutzung als Altardecke hin.

 

Seit 2013 schätzt sich das Stadtmuseum Bergen auf Rügen glücklich, diesen besonderen Schatz in seinen Räumlichkeiten präsentieren zu dürfen. Wir laden Sie herzlich zu einem Besuch in unserem Haus ein. Nehmen Sie sich die Zeit, die Darstellungen und das handwerkliche Geschick selbst zu betrachten und zu bestaunen!

 

Autorin: Marika Emonds